Schärfe als Zeitgeistproblem

Momentan gibt es zwei große Trends in der Fotografie:

  1. Es muss auch noch das letzte Pixel in der Bildecke rechts unten absolut makellos scharf sein sonst kommt die Linse zum Altglas.
  2. Boah, guck doch mal, mit welch wunderschönem Schmelz dieses Objektiv die Unschärfen abbildet.

Ich rede jetzt nicht von den bewussten Bildbearbeitungseffekten, sondern von optischen Gegebenheiten bei der Objektivkonstruktion. Mir scheint, die eine Fraktion fotografiert am liebsten Backsteinwände, die andere Lichtflecken.

Steine am Strand mit Schärfe-Unschärfe-Effekt

Steine am Strand

 

Mit der immer höher werdenden Auflösung unserer Kamerasensoren kommen natürlich die Linsensysteme unserer Objektive an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Was für Film gut war ist für digitale Fotografie nur noch „so mittel“ und für 50 Megapixel-Kameras muss es ein Hochleistungsobjektiv für den Preis einen guten Gebrauchtwagens sein, sonst geht da gar nix.

Ich schließe aus meiner Argumentation ganz bewusste die Fotografen aus, die „Reproduktive Fotografie“ betreiben und wirklich auf gleichmäßig perfekte Schärfe und Helligkeit angewiesen sind, weil sonst der Rembrandt am Rand so schwammig wirkt. Künstlerische „Randgebiete“ (Wahnsinns Wortspiel in diesem Zusammenhang) wie die beliebte „Strukturfotografie“ gehören für mich ebenfalls zu diesem Kreis, der auf möglichst perfekte Reproduktion/Dokumentation ausgerichteten Fotografie.

Ach ja: der Einfachheit halber (es ist meine Website, ich darf das) zähle ich auflösungsbedingten Detailreichtum mal zu den „Schärfeeffekten“. 

Objektive haben schon immer bessere Leistung in der Bildmitte gezeigt und wurden beim Abblenden dann noch mal besser. Früher hat man damit leben können und hat einfach vermieden, wichtige Bildelemente ganz außen in die Ecken des Formats zu legen…Moment mal. Eigentlich macht das doch auch heute keiner, oder? Die Bereiche, die von den meisten Objektiven nicht ganz 1000%ig scharf gezeichnet werden sind doch die Bereiche, in denen sich eigentlich nix Wichtiges befindet, oder?

Die Kosten des Traums vom optimalen Bild

Wenn man jetzt 2000 Euro in ein Objektiv investiert, das in der Lage ist, optimale Schärfe in allen Bildbereichen zu liefern und die vom Sensor gestellte Auflösung möglichst komplett zu nutzen. Was benötigt man so alles um ein schlüssiges Ausrüstungssystem zusammenzustellen?

  • Aktueller Kamerabody mit 36 – 50 MP – 3000 Euro
  • High-end Objektiv – ab 2000 Euro
  • Ein Stativ. Schwer mit stabilem Kopf – 500 Euro
  • Einen Fernauslöser – 30 Euro
  • Die Ahnung, wie man den Spiegel vorauslöst – 0 Euro
  • Einen Drucker, der die Riesendateien auch in einem sinnvollen Format (so 100×150 cm) in angemessener Qualität ausgeben kann. – ab 1500 Euro

Das macht so 7000 Euro aufwärts für die gesamte „Nahrungskette“.

Die meisten Fotografen (Profis und Amateure) von denen ich so lese publizieren ihre Fotos in

  • Internet
  • Fotobüchern
  • Zeitschriften
  • Standardgroße Prints für an die Wand
  • anderen eher kleinen Medien

und, weit abgeschlagen:

  • großflächige Werbemitteln (Messestände, Hausfassaden)

Man erkennt die Diskrepanz zwischen GAS (Gear Acquisition Syndrome) und tatsächlichen Anforderung.

Für die wirklich große Formate auf dieser Liste benötigt man dann noch nicht mal so brutal hohe Auflösungen, weil die Bilder nur aus recht großer Entfernung betrachtet werden.

Der Rest, ich schätze 99%, der Bilder werden in einer Größe publiziert, in der jede momentan erhältliche Kamera genug Auflösungsreserve bietet. Oder die Technik wird auf eine Art eingesetzt, die das prinzipiell möglichen Qualitätsniveau unerreichbar macht (kein Stativ, falsch fokussiert, auf einer befahrenen Brücke stehend, all sowas halt).

Unschärfe als Bildinhalt

Wenn man heute in den fotografischen Zirkeln unterwegs ist hört man immer wieder das Buzzword „Bokeh“. Soll offenbar total wichtig sein heute.

„Bokeh“ ist ein fernöstliches Konzept (das Ur-Word stammt aus Japan) mit dem die Qualität des Unscharfen beschrieben wird. Ein „tolles Bokeh“ beschreibt also Bereiche in einem Foto die auf bezaubernde Weise unscharf sind. Bokeh ist ein technisches Nebenprodukt der Linsenkonstruktion.

Das Konzept erfüllt für mich fast den Tatbestand der Perversion. Wenn ich in einem Bild etwas in Unschärfe verschwimmen lasse, dann deshalb, weil etwas anderes wichtiger ist – man nennt diesen Bildbestandteil „Motiv“. Wenn ich jetzt diese Unschärfe so hübsch mache, dass der Betrachter ihr Aufmerksamkeit widmet erreiche ist ja eigentlich das genaue Gegenteil von dem was ich angestrebt hatte.

Also echt jetzt?

Ich liebe das Spiel mit der Unschärfe. Und ich habe auch kein Problem damit wenn diese Unschärfe in Photoshop erzeugt wurde. Solange es gut aussieht.  Aber bokeh-optimierte Fotografie ist für mich gleichbedeutend mit der Jagd nach der Nebensächlichkeit.  Ein Bild ohne gutes Motiv wird durch hübsche (nicht mal unbedingt gestalterisch gut eingesetzte) Unschärfe nicht besser.

Aber wen’s glücklich macht…

Und das Schöne für die Industrie: Das tollste Bokeh bekommt man immer mit dem Objektiv, das man (noch) nicht hat. Witzigerweise scheinen entweder sauteure neue Linsen oder spottbillige alte Scherben die perfekten Objektive für Bokehjäger zu sein.

Nachdem Ihr bis hierher gelesen habt gibt’s zur Belohnung meinen Tipp zum Thema:

Strebt nicht nach immer besserer technischer Ausrüstung, davon werden eure Bilder nämlich nicht besser. Arbeitet an eurem fotografischen Ansatz: Nicht das Wie, das Warum zählt.